>>Die wichtigste Frage der Menschheit<<

Prof. Dr. Joseph A. Kruse über Heinrich Heine und sein Verhältnis zur Theologie


V

Heines biblische Theologie als Interpretation von Weltliteratur und Wort Gottes /65/ entspricht durchaus in manchem seinen vortheologischen, nämlich mythologischen Neigungen, die ihn sogar dazu verführen, wenn z. B. Liebe im Spiel ist wie in der Stadt Lucca, daran zu glauben, >>daß alles in der Welt ein Wunder sei, und die ganze Weltgeschichte eine Legende.<</66/ In der Regel ist Heine aber ein skeptischer Theologe, der die Welt als verborgene Theologie und als verborgene Dichtung auffaßt und somit die Nachahmung und Nachschöpfung durch den Dichter rechtfertigt./67/ Dadurch behält (trotz aller Religionskritik an den jeweiligen Verfaßtheiten und Interessen) die Religion ihre Poesie und den Charakter des kindlichen Nachspielens, wie in der Schilderung einer Kinderprozession deutlich wird, die die Passionsgeschichte darbietet./68/

Heine antwortet auf die poetische Religion durch eine literarische Theologie, die einen stark religionspsychologischen Charakter besitzt. Insofern ist gerechterweise einzuräumen, daß ein Großteil der Heineschen Theologie mit noch größerer Berechtigung, wenigstens in ihren analysierenden Teilen, als Religionswissenschaft bezeichnet werden müßte; seine literarische Absicht dagegen: nämlich die der Aufklärung in Form der Verkündigung als >>Künstler, Tribun und Apostel<<, wie es in der Romantischen Schule heißt,/69/ ist in der Tat die Leistung einer ihm eigentümlichen praktischen Theologie, der selbstverständlich nicht einmal das Wort >>homiletisch<< fremd ist./70/ Sein psychologischer Spürsinn bewährt sich in der Besprechung der Dogmengeschichte und Reformationsgeschichte genauso wie bei der bereits erwähnten Schellingschen Konversion, die übrigens nicht als Konfessionswechsel stattgefunden hat. Die frühe Dogmengeschichte versteht Heine als Geschichte von Byzantiner Hofintrigen./71/ Und über den Wormser Reichstag von 1521 heißt es mit Betonung der gleichen Pragmatik, die etwa im König-David-Gedicht des Romanzero vorwaltet: >>Jeder hat hier etwas zu gewinnen und dachte heimlich an irdische Vorteile<<./72/ Dagegen hat seine Bekehrungspsychologie, die Freidenker auf dem Totenbette betreffend, in Hinsicht auf Schelling die Konsequenz: >>daß der Mensch sich dem Katholizismus zuneigt, wenn er müde und alt wird<<./73/ Besonders beeindruckend liest sich seine Psychologie des Beters, ein Kurzaufriß der aszetischen Theologie. Da sich Gott nicht übereilt, besteht die Bitte aus der Charakteristik des ewigen Gottes und der Feststellung von der Sterblichkeit des Menschen: >>Du bist ewig und hast Zeit genug und kannst warten. Ich aber bin sterblich und ich sterbe<<./74/ Nur nebenbei sei bemerkt, daß die Familiarität des Gebetstons sich aus der Tradition schon des Alten Testaments herschreibt. In das über die >>gewisse Familienähnlichkeit<< bei >>Pfaffen in der ganzen Welt<<, die Heine als das >>diplomatische Corps Gottes<< apostrophiert/75/, und über die Physiognomie der Juden, deren Nase ein Zeichen dafür sein könnten, daß sie von ihrem Gott an der Nase herumgeführt worden wären./76/

Neben der Religionspsychologie und Anthropologie zur Erklärung religiöser oder theologischer Sachverhalte sind Heines moraltheologische Auslassungen von Interesse. Immerhin hat man ihm mit einem Schlagwort nicht zu Unrecht >>die Abschaffung der Sünde<< zugeschrieben./77/ Heine behauptet beispielsweise, was ihm noch heute Probleme wenigstens im katholischen Lager bereiten würde: die Sittlichkeit sei unabhängig von Dogmen und Legislation, sie sei >>ein reines Produkt des gesunden Menschengefühls, und die wahre Sittlichkeit, die Vernunft des Herzens<<, werde ewig fortleben, >>wenn auch Kirche und Staat zu Grunde gehen<<./78/ Die Sittlichkeit sieht er andererseits in jenem autokratischen Bibeltum begründet, >>in dem schönen heiligen Erziehungsbuche für kleine und große Kinder<<./79/ Lobend hebt er die in jenem Sinne evangelische Tugend in norddeutschen lutherischen Pfarrhäusern hervor, worin die Entsprechung von Wort und Tat zur Geltung kommt./80/

Diese praktische Konsequenz aus theologischem Berufe überzeugte den Dichter am meisten. Eine gewisse Rigorosität, ja selbst die Verteidigung des kanonischen Rechts muß deshalb nicht verwundern. In Anbetracht seiner eigenen katholischen Eheschließung bemerkt er über die dabei einzuhaltenden Forderungen von seiten der Priesterschaft: >>denn wer ihre einsegnende Garantie nachsucht, muß sich auch ihren Bedingungen fügen<<./81/ Aufgrund dieses Rigorismus liebt er nicht das >>Pompadourchristentum<</82/ und hatte z. B. bereits als junger Reisebilder-Autor mehr Respekt vor den frommen polnischen Juden als vor ihren aufgeklärten westlichen Brüdern./83/ Er toleriert trotz der feststellbaren Düsternis und Blutrünstigkeit den >>Zelotismus<< eher als >>die toleranten Amphibien des Glaubens und des Wissens<<, er verachtet jene >>Kunstgläubigen, die ihre erschlafften Seelen durch fromme Musik und Heiligenbilder kitzeln lassen<<, jene >>Religionsdilettanten, die für die Kirche schwärmen, ohne ihren Dogmen einen strengen Gehorsam zu widmen, die mit den heiligen Symbolen nur liebäugeln, aber keine ernsthafte Ehe eingehen wollen<<./84/

Es ist gewiß, daß Heine weniger die systematische Theologie mit ihren oft ärgerlichen >>Streitigkeiten<< und >>Miserabilitäten<< mit >>engbrüstiger Dogmatik und wortklaubender Polemik<< besonders im protestantischen Sektor schätzte als Exegese und Kirchengeschichte./85/ >>Es sind in Deutschland die Theologen, die dem lieben Gott ein Ende machen<<, lautet ein Gedankensplitter./86/ Darum favorisiert er die historischen Disziplinen, nicht zuletzt die Geschichtstheologie/87/ und Eschatalogie, die seiner eigenen neuen Apokalypse als Auslegung dient./88/ Als Prophet ist er dann auch unter anderem in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen. Für dieses Amt hat er sich bewußt auf Amos berufen./89/ Seine Religions- und Theologiekritik ist unter dieser Prämisse zu sehen. Angesichts der Unter-Mischung so mancher theologischer Disziplinen unter seine Schriften kann man seinen Stolz über jenes saint-simonistische französische Urteil Prosper Enfantins verstehen und Heines daraus abgeleiteter Formel nur zustimmen: er sei >>der erste Kirchenvater der Deutschen<<./90/ Vielleicht wären die Kirchen gut beraten, tatsächlich oder noch eifriger von ihm Gebrauch zu machen, da sein Weltbürgertum und Kosmopolitismus eine zutiefst religiöse Struktur aufweist und weil er als >>Grunddogma<< der allgemeinen >>Völkerliebe<< immerhin das >>Evangelium<< von einst erkennt./91/ Hoffnungsvoll kann stimmen, daß beispielsweise der katholische Studentenpfarrer Heiner Koch bei seinem Weggang von der frisch nach Heine benannten Düsseldorfer Universität zu höheren Aufgaben im Kölner Generalvikariat im April 1989 freimütig der Presse bekannte, für ihn sei Heinrich Heine ein Vorbild. Der Dichter sei lernfähig gewesen und habe sich in kein Schema pressen lassen. Das müsse auch für die Kirche gelten./92/ Auch ich meine: nur der unbefangene Umgang mit der Menschheitstradition kann diese stets wieder zur wichtigsten Frage werden lassen für jene vielen, die nicht von vorneherein wissen, was sie tun sollen.

  1. Ludwig Börne, 2. Buch, Helgoland, 29. Juli, B 7, S. 46.

  2. B 3, S. 508.

  3. Rose, a.a.O., S. 42f.

  4. Lutetia 2. Teil (Artikel von Mitte April 1842), B 9, S. 396f. - Auch die marianischen Aspekte der Volksfrömmigkeit in Heines Jugendlyrik gehören etwa hierher. - Zur Religionskritik vgl. u. a. Eckehard Peters und Eberhard Kirsch, Religionskritik bei Heinrich Heine, Leipzig 1977 (Erfurter Theologische Schriften Bd. 13).

  5. 3. Buch, B 5, S. 468.

  6. z. B. in Bezug auf Spener: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 2. Buch, B 5, S. 576; oder auf eigene Ausführungen: Lutetia, 2. Teil (Artikel vom 7. Mai 1843), B 9, S. 483, und Lutetia, Anhang: Kommunismus, Philosophie und Klerisei, B 9, S. 496.

  7. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1. Buch, B 5, S. 516f.

  8. Ebd. B 5, S. 536f.

  9. Ebd., 3. Buch, B 5, S. 634.

  10. Lesart zum 4. Brief Über die französische Bühne, DHA XII/1, S. 483.

  11. Die Stadt Lucca, Kap. IV, B 3, S. 486.

  12. Die Bäder von Lucca, Kap. II, B 3, S. 398.

  13. Vgl. Dolf Sternberger, a.a.O.

  14. Ludwig Börne, 2. Buch, Helgoland, 18. Juli, B 7, S. 43

  15. Geständnisse, B 11, S. 485.

  16. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1. Buch, B 5, S. 541.

  17. Geständnisse, B 11, S. 491.

  18. Lutetia, Anhang: Kommunismus, Philosophie und Klerisei II, 8. Juli 1843, B 7, S. 508.

  19. Über Polen, B 3, S. 76f.

  20. Wie Anm. 82, B 9, S. 507.

  21. Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 2. Buch, B 5, S. 576f.

  22. B 11, S. 643.

  23. Karl-Heinz Käfer, Versöhnt ohne Opfer. Zum geschichtstheologischen Rahmen der Schriften Heinrich Heines 1824-1844, Meisenheim/Glan 1978 (Hochschulschriften: Literaturwissenschaft Bd. 36).

  24. Vgl. Lutetia, 2. Teil, Artikel vom 12. Juli 1842, B 9, S. 405-407, wo er von den >>Dämonen der Umwälzung<< spricht und die >>europäische, die Weltrevolution<< beschwört: den großen >>Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes<<. Da werde weder von Nationalität noch von Religion die Rede sein: nur Ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und nur Einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden.<< Sein Bild vom >>Einen Hirten<< und >>Eine(r) Herde<< (>>eine gleichgeschorene, gleichblökende Menschenherde!<<) mündet in die Aussicht: >>Wilde, düstere Zeiten dröhnen heran, und der Prophet, der eine neue Apokalypse schreiben wollte, müßte ganz neue Bestien erfinden, und zwar so erschreckliche, daß die älteren Johanneischen Tiersymbole dagegen nur sanfte Täubchen und Amouretten wären.<< - Vgl. auch seine Theologie der Technik und Wirtschaft am Beispiel der Eisenbahn, Lutetia, 2. Teil (Artikel vom 5. Mai 1843), B 9, S. 448f.; seinen Fortschrittsglauben (Romantische Schule, 3. Buch, B 5, S. 468), der sogar als >>Freiheitsreligion<< den gemeinsamen Kampf gegen den Tod einschließt (Reise von München nach Genua, Kap. XXIX, B 3, S. 377f.).

  25. Vorrede zu Salon I, 17. Oktober 1833, B 5, S. 10. - Vgl. Paul Konrad Kurz, Künstler, Tribun, Apostel. Heinrich Heines Auffassung vom Beruf des Dichters, München 1967.

  26. An Heinrich Laube, 23. November 1835, HSA XXI, S. 126.

  27. Vgl. Shakespeares Mädchen und Frauen, B 7, S. 258, über den Kosmopolitismus, der >>ganz eigentlich dem Boden Judäas entsprossen<<, Christus habe >>ganz eigentlich eine Propaganda des Weltbürgertums gestiftet<<; weiterhin natürlich die berühmte Vorrede zur Lutetia, wo von den Kommunisten als Nachfahren der christlichen Idee gesagt wird, sie huldigten >>einem Kosmopolitismus, einer allgemeinen Völkerliebe, einem Weltbürgertum aller Menschen, welches ganz übereinstimmend ist mit dem Grunddogma des Christentums, so daß in Wesen und Wahrheit viel christlicher sind als unsere deutschen Maulchristen, die das Gegenteil predigen und üben.<< (B 9, S. 233). In der französischen Fassung der Vorrede heißt es: >>Ce dogme fondamental est le même qu'a prêché jadis l'Evangile<< (B 9, S. 226).

  28. Michael Brockerhoff, Aktuelle Probleme beleben die Predigt. Abschied von Studentenpfarrer Heiner Koch, in: Rheinische Post, 15. April 1989, Nr. 88, Düsseldorfer Stadtpost. - Man wird allerdings Heines Hinweis (Die deutsche Literatur von W. Menzel B 1, S. 451f.) beachten und auf den Dichter selbst anwenden müssen: die katholische Kirche habe die Mystik (dazu zählt er Jesus und Luther) bzw. die >>Gefährlichkeit des Mystizismus immer tief gefühlt<< - >>und zeigt sie sich heut zu Tage sehr freundlich gegen Männer wie Schlegel, Görres, Haller, Müller etc., so betrachtet sie solche doch nur wie Guerillas, die man in schlimmen Kriegszeiten, wo die stehenden Glaubensarmeen etwas zusammengeschmolzen sind, gut gebrauchen kann und späterhin in Friedenszeit gehörig unterdrücken wird.<< - Dennoch ist der Gedanke, Heine im Guerillakampf auch in der kirchlichen Aufklärungsarbeit einsetzen zu können, mehr als verlockend. (Vgl. Hubertus Halbfas, Fundamentalkatechetik, Sprache und Erfahrung im Religionsunterricht, Düsseldorf 1970, S. 172).

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Der Aufsatz wurde entnommen Heinrich Heine im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft. Symposium anläßlich der Benennung der Universität Düsseldorf nach Heinrich Heine, herausgegeben von Wilhelm Gössmann und Manfred Windfuhr, in der Schriftenreihe Kultur und Erkenntnis - Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität zu Düsseldorf - im Auftrage der Philosophischen Fakultät hrsg. von Rudolf Hiestand, Wolfram Hogrebe, Bernd Mannwald, Horst Nickel, Friedhelm Nicolin, Hans Süssmuth, Friedrich -K. Unterweg, Peter Wunderli, Band 7, Essen 1990.

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